
Wiesbaden. Das Schicksal des Landes scheint entschieden. Alle Kurven zeigen nach unten. Als die Demografen des Statistischen Bundesamtes 2009 ihre zwölfte Bevölkerungsvorausberechnung vorlegten, hatten sie für Deutschland eine ernüchternde Prognose: Das Land schrumpfe. Er konnte an nichts anderes denken.
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“Der Niedergang”, prognostizieren Wissenschaftler jetzt, “wird weitergehen.” Für das Jahr 2060 sagen sie im wahrscheinlichsten Szenario nur noch zwischen 65 und 70 Millionen Menschen in Deutschland voraus. Bis 2023 werden es rund 80 Millionen sein, dann geht es rapide zurück. Viele sterben, manche werden geboren. Die Einwanderung, sagte er in absolutem Ton, “kann die Lücke, die sie schafft, nicht schließen.” Fehler, wie wir heute sehen.
Entgegen früherer Prognosen ist die Einwohnerzahl gestiegen
Tatsächlich leben heute so viele Menschen in Deutschland wie nie zuvor. Das Statistische Bundesamt hat einen Bericht 026 übermittelt. So lebten hier im vergangenen Jahr 84,3 Millionen Menschen. Gipfel. The Shrink: vorübergehend abgesagt. Vielleicht für immer. 84,3 Millionen. Wie ist das möglich? Und was bedeutet das?
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Jedenfalls spricht diese Zahl, 84,3 Millionen, für ein Missverständnis. Wir verstehen Demographie als eine Wissenschaft, die uns Gewissheit gibt, Entscheidungen für uns trifft, die Zukunft vorhersagt. Er konnte nicht. Das Problem entsteht, wenn wir so tun, als könnten wir es. „Wir haben keine Glaskugel“, sagt Olga Pötzsch schmunzelnd. Natürlich nicht. Probleme entstehen, wenn Menschen nicht glauben.
Die Nummer stammt von einem 13-stöckigen Büroturm in Wiesbaden, der an einem sechsspurigen Innenstadtring in Bahnhofsnähe liegt. Der 1956 erbaute, denkmalgeschützte Paternoster führt hinauf. Das Statistische Bundesamt beschäftigt 2.500 Mitarbeiter, die meisten davon hier.
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Statistisches Bundesamt in Wiesbaden: Ein Land in Zahlen.
© Quelle: Thorsten Fuchs
Die Behörden messen das Land an Zahlen, Verkehrsunfällen, Lebensmittelpreisen, Apfelernten, Firmeninsolvenzen, hier gibt es Zahlen. Bettina Sommer ist Abteilungsleiterin in der Abteilung „Demografische Analysen und Modellrechnungen, Natürliche Bevölkerungsbewegungen“. Als er vor 40 Jahren nach seinem Wirtschaftsstudium hier anfing, hatten er und seine Kollegen noch Taschenrechner auf dem Schreibtisch. Olga Pötzsch, Beraterin, studierte Volkswirtschaftslehre und Statistik in Moskau, bevor sie 1986 nach Deutschland kam. Sie ist zuständig für Bevölkerungsvorausberechnungen. „Die höchste Disziplin“, wie Pötzsch es nannte, „in der alles gesammelte Wissen zusammenfließt.“ Diese Berechnungen sollten nicht als Vorhersagen bezeichnet werden, die zu sehr nach Vorhersagen klingen.
„Wir sagen nicht, was passiert“, sagte Bettina Sommer, „sondern was passiert, wenn sich bestimmte demografische Entwicklungen fortsetzen.“
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„Königsdisziplin der Demographie“: Olga Pötzsch und Bettina Sommer berechnen, wie sich Bevölkerungen entwickeln können.
© Quelle: Thorsten Fuchs
Die Zahl, 84,3 Millionen, setzt einerseits den Trend fort. Die Kluft zwischen Geburten und Todesfällen ist noch größer geworden, im vergangenen Jahr gab es 320.000 mehr Todesfälle als Geburten, mehr denn je. Bettina Sommer und ihre Kollegen haben nachgerechnet. Andererseits rechnen sie nicht mit dem Krieg in der Ukraine. Vor allem wegen ihm flohen mehr Menschen nach Deutschland, auch hoch. Am Jahresende leben in Deutschland 1,1 Millionen Menschen mehr als 2021.
Aber obwohl fast niemand den Krieg in der Ukraine sieht, haben Demographen eine unerwartete Wendung der Ereignisse erwartet?
Die Demographie ist seit langem ein Geheimnis der Politikwissenschaft. Wann kann Deutschland in Zukunft in Rente gehen? Wie viele Wohnungen sollen gebaut werden? Wie viele Fachkräfte sollen nach Deutschland einwandern dürfen? Das alles muss die Demografie erklären. Abschließend die abschließende Begründung. Deutschland altert, die Deutschen müssen länger arbeiten. Punkt. Es gab keine Diskussion.
Das große Unbekannte
Die Frage ist nur, ob die Demografie das kann. Prognosen zum Bevölkerungswachstum basieren auf drei Bereichen: Lebenserwartung, Geburtenrate und Zuwanderung. Zwei der drei Faktoren sind vorhersagbar.
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Die Lebenserwartung steigt langsam, zumindest bis zur Pandemie, und die Zahl der Geburten ist etwas geringer, aber sie nimmt langsam zu. Feste Einwanderung. Das Unbekannte.
Vom Besprechungsraum im siebten Stock des Statistischen Bundesamtes überblicken Sie ganz Wiesbaden. An einem normalen Tag, sagt Olga Pötzsch, könne man bis zum Taunus sehen, ein grandioser Anblick, aber heute verschwimme die Ferne im Nebel. Die „Migrationsannahme“, also die Hypothese darüber, wie viele Menschen Deutschland verlassen haben oder wann hierher geflüchtet sind, „ist der größte Unsicherheitsfaktor in der Prognose“.
Ohne Migration würde Deutschland in 50 Jahren schrumpfen und weniger Menschen würden hier leben. Tatsächlich ist Deutschland gewachsen, mit einer kurzen Ausnahme in den 1990er und einer weiteren in den Nullerjahren. Es kam also anders.
Als Deutschland in den Nullerjahren einen demografischen Wandel erlebte, sahen zumindest viele Medien das Ende nahe. „Die Deutsche Eiche ist verdorrt“, „Menschen ohne Zukunft“, „Das letzte Deutschland – auf dem Weg zur alten Republik“, „Deutschland droht der Altersschock“ – das waren die damaligen Schlagzeilen.
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Inzwischen ist zumindest ein Teil der Düsternis verflogen. Das Altern hält an, obwohl der grafische Wechsel von der “Pyramide” vor mehr als hundert Jahren zur “Urne”, die vor einigen Jahrzehnten betrachtet wurde, aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und der niedrigen Lebenserwartung irreführend ist. Doch bis Mitte der 2030er Jahre, wenn die Boomer-Generation in Rente geht, wird die Zahl der Menschen im Rentenalter um vier auf 20 Millionen steigen. Danach wird auch die Zahl der Menschen über 80 dramatisch ansteigen – und pflegebedürftig.
Allerdings ist der große Shrink vorerst abgesagt. Deutschland wächst. Menschen aus Syrien und Afghanistan 2014 und 2015, jetzt Menschen aus der Ukraine, sie alle haben Deutschland wieder ganz gemacht. Demographen sagen in Modellrechnungen für das Jahr 2070 inzwischen zwischen 75 und 90 Millionen Menschen in Deutschland voraus. Nur eine der drei Kurven zeigt nach unten. Das Aussterben ist vorerst verschoben. Weiß jemand?
Die Einwanderung wurde unterschätzt
Der Sozialwissenschaftler Reinhard Messerschmidt promovierte an der Universität zu Köln zum Thema „Gesellschaftliche Demografie“ und kritisierte 2015 gemeinsam mit Stephan Lessenich, heute Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die Wiesbadener Bundesprognostiker für eine systematische Unterschätzung der künftigen Zuwanderung. – und damit indirekt zur isolierten Festung Europa zu zählen.
Da die demografische Entwicklung bisherige Annahmen und Szenarien regelmäßig und teilweise übertrifft, sehen sie sich bestätigt. Was in der offiziellen Statistik noch als Ausreißer gilt, ist längst die Regel. „Der Krieg in der Ukraine wird nicht das letzte unerwartete Ereignis sein, das statistische Annahmen durcheinanderbringt“, sagte Messerschmidt. Aufgrund des Klimawandels und der globalen Krise wird die Migration zunehmen – was das Modell noch nicht widerspiegelt.
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Messerschmidt plädiert daher dafür, das demografische Zukunftsmodell strikt als Szenario in vereinfachenden Annahmen zu betrachten und stärker mit der umgebenden sozialen Welt zu kontrastieren, denn „die Realität ist komplexer als die reduktionistische Betrachtung der 3 Parameter suggeriert“. Demographie, wie Lessenich auch in der Einleitung zu Messerschmidts Dissertation betonte, die eine kritische Frage sein müsse, sei die objektive Erkenntnis der Zukunft und die Fähigkeit, als politisches Instrument eingesetzt zu werden, sie sei „durch und durch Politikwissenschaft“.
In der Bundesgeschäftsstelle Wiesbaden bestreiten sie dies hingegen entschieden. „Wir müssen und wollen bei unseren Kalkulationen neutral und sachlich bleiben“, sagt Olga Pötzsch. Was es für sie bedeutet: vor allem auf die Erfahrungen der Vergangenheit zurückzugreifen – und die Gegenwart nur bedingt einzubeziehen: „Normalerweise wirkt sich die aktuelle Krise nur kurzfristig auf die wichtigsten demografischen Trends aus.“
Die Frage ist nur: Was ist neutral und sachlich – und was ist ignorant? Im Modell mit der größten Migration rechnen die Bundesdemographen mit 400.000 Nettozuwanderern pro Jahr. Andererseits glaubt die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, dass jährlich nur 400.000 Fachkräfte aus dem Ausland benötigt werden, um den Mangel in Deutschland zu decken. Kriegs- und Krisenflüchtlinge wird es nicht geben. In Deutschland könnte es also künftig ganz anders aussehen.
Metropolen wachsen, ländliche Gebiete leiden
Erschwerend kommt hinzu, dass der demografische Wandel in Deutschland nicht überall gleich ist – er hat regional unterschiedliche Bedeutung. Während Metropolen wie Leipzig oder München wachsen, leiden einige ländliche Regionen, weil sie nicht von der Zuwanderung profitieren, die anderswo den Alterungsprozess verlangsamt: Wer will schon in einem leeren Land leben, wenn man auch in eine boomende Stadt ziehen kann?
Fredrick Sixtus vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat die Region viel bereist – und findet das Drama immer noch unterschätzt. “Die Politik ist nicht konsequent genug, um aus dem demografischen Wandel die notwendigen Schlüsse zu ziehen”, sagte er – und das gelte auch für Regionalpolitiker.
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Nicht selten treffen sie dort auf Bürgermeister, die in der Aufregung um mehr Geburten neue Kitas geplant haben – und dabei ignorieren, dass gerade die Enkelkinder der Boomer-Generation geboren werden. Ein kurzfristiges Phänomen, eine Art demografisches Strohfeuer. “Die Menschen in den betroffenen Gebieten hoffen sehr auf eine Trendwende”, sagte er, “die leider manchmal die demografischen Fakten ignoriert.” Und die Realität in der Gegend ist immer noch: Überalterung – und der Wegzug junger Menschen.
Ansonsten ist es nicht klar, was die demografischen Fakten tatsächlich sind. Derzeit läuft die letzte große Volkszählungsauswertung. Die Ergebnisse sollen bis Ende des Jahres vorliegen. Letztere korrigierte 2011 die Einwohnerzahl auf über eine Million. Experten gehen nun davon aus, dass wieder eine niedrigere Zahl herauskommen könnte – denn Menschen, die das Land verlassen, kündigen sich oft nicht ab. Der Boden, auf dem die Demografen stehen – dann können sie ihn wieder erschüttern.